Einsichten
Im Leben gibt es ja stets etwas zu erlernen. Und wenn man frisch auf die Welt kommt, zur Schule geht und in die Lehre oder so, dann suggeriert das, dass man von einer Lernstufe auf die nächste geht und so immer weiter kommt. Und zwischendurch darf man sich auf die Schulter klopfen und sich freuen, dass man wieder eine Erlernung weiter gekommen ist. Als ich damals durch die Schule gejagt wurde (und dann auch noch Pflichtgriechisch hatte), wurde uns irgendwann diese Aussage, die der Herr Plato dem Herrn Sokrates für nahe seines Lebensendes in die Schuhe geschoben hatte, «Ich weiß nun, dass ich nichts weiß.» vorgesetzt, und ich erinnere mich grob, dass die meisten von uns dachten «Oje, das wird wieder so ein Versuch des Lehrers, uns nahezubringen, dass das Lernen dann wohl doch mit dem Abitur nicht aufhören wird.»
Später im Leben, im Studium, wurde mir — vielleicht weil mit der eigenen Familie das Leben mehr Schwerkraft bekommen hatte — Lernen und Wissen doch irgendwie wichtig. Oder Denken. Anderes Denken, als dasjenige auf die elterliche Aufforderung hin «Mensch, denk doch mal nach!». Denken als eine Art Tätigkeit, etwas, was man tut. Ich erinnere mich an eine Tafel, die bei meiner Großmutter im Eingang der Wohnung hing, ein Walther-von-der-Vogelweide-Druck mit dem Beginn seines Gedichts, wo er auf einem Stein hockt, die Beine übereinander, das Kinn auf einer Hand aufgestützt und eine Weile lang denkt. In Erinnerung blieb mir das Denken ohne Objekt. Das wiederum lag sicher daran, dass nur der erste Teil des Gedichts abgebildet war und ich den Rest einfach nicht kannte. Und da geht es ja dann darum, worüber er nachdenkt. Aber ich wusste das nicht, war nur fasziniert vom Denken an sich. Objektfrei. So wie laufen ohne ein wohin; atmen während man schläft; sehen ohne zu registrieren.
Als ich Ende der 90er eine wichtige Entscheidung treffen wollte, ging ich für ein paar Wochen das erste Mal nach Asien, Thailand damals, eine kleine Insel. Mein einziges Ziel: Jeden Morgen zum Sonnenaufgang wollte ich im Wasser sitzen und mindestens eine halbe Stunde lang nur denken, so wie ich dachte, der Walther würde es so tun. Kein Denkziel vorhanden, außer das Gefühl, es sei irgendwie «alles» zu bedenken, in Summe soviel, dass Plan, Struktur, Aufgaben, Ziele aufzustellen bedeutungslos erschien. Und angestiftet durch die Erinnerung an das alte Bild in Mimis Eingang glaubte ich, ich müsste nur der Tätigkeit des Denkens Raum geben und irgendwann wüsste ich dann auch, über was ich nachgedacht und wozu ich Lösungen gefunden hatte. Heimgekehrt, machte ich mich die Woche drauf selbständig, löste die verheerende Arbeitsbeziehung mit dem Kleinverlag und startete mein Berufsleben.
Seit ich 2020 in Bali bin und angesichts der Coronakrise, nach 3 Jahren Trump, nach der Zerrüttung von Realität in der Politik und in den Medien, dem totalen Erstarken von uralten unglaubwürdigen Verschwörungstheorien und einer Menge Angst und Unsinn, an den die Menschen bereit sind zu glauben (und die sie bereit sind zu haben), die ich mir nie hätte träumen lassen, habe ich wieder begonnen, über das Denken nachzudenken. Meine persönliche meditative Mission für 2020 war, dass ich mein Denken mehr und mehr in die Richtung lenken will darüber nachzudenken, was ich nicht sehe, was ich nicht weiß. Ausgelöst wurde das dadurch, dass ich beim Eindringen und Leben in einer anderen Kultur mit der Zeit mehr und mehr feststellte, dass das Leben in Schichten stattfindet. Die Dinge sind nicht wie sie sind, sie sind den einen Tag so, den anderen anders. Und ich rede nicht von einer gewissen Unschärfe in Beurteilung oder Wahrnehmung. Was heute richtig ist, ist morgen falsch. Und in der Rücksicht ewig richtig ohne deswegen nicht auch unendlich falsch zu sein. Um es kurz zu machen: Mit der Zeit gewann der Glaube an das was ich nicht weiß wesentlich an Plausibilität gegenüber der Sicherheit in den Dingen, von denen ich ausging sie zu wissen. Anders gesagt: Ich wurde sicherer, dass es viel wahrscheinlicher ist, dass ich etwas nicht weiß (auch wenn ich glaube es zu wissen), als dass ich es wüsste.
Ich habe dann angefangen, wenn ich konfrontiert wurde mit einem Ereignis oder eine Aussage oder über etwas nachdachte, was auch immer, stets Platz zu lassen für alles, was ich nicht sehe, eventuell einfach nicht verstehe, nicht weiß oder nicht wissen kann. Ich nenne es not-seen und not-known. So kreist das Denken natürlich um die Koordinaten, zu denen ich Wissen habe oder Verständnis sich ankündigt, mit der Zeit wurden die Bereiche nicht-gesehen und nicht-gewusst aber immer greifbarer, wurden Teil des Denkens, nicht dass ich deswegen dorthin Zugang bekam, aber allein die Tatsache dass diese Bereiche realer wurden, erlaubten mir immer mehr zu verstehen und gleichzeitig das Nichtverstehen mitzuführen; nicht als Antagonismus, sondern als Hilfe im Sinne von «da mag mehr dran sein, was ich einfach nicht sehe». Auch in den Gesprächen, die wir während der Monate der Kurzarbeit mit dem Freiburger Team hatten, kam ich immer wieder auf diese Sache zu sprechen, z.B. wenn es um Kreativität ging, Ideen… denn wo kommen sie her? Wenn sie nicht eine reine Nachahmung sind, dann müssen sie doch Schöpfungen sein, also von einem Ort kommen, an dem ich jetzt nicht bin, um sie aufzusammeln. Also muss dieser Raum existieren. Und wenn wir etwas wirklich Neues schaffen, dann kannten wir das vorher noch nicht, und neben uns auch niemand anderes, sonst wäre es ja nichts Neues. Und über die Monate lernte ich einen interessanten inneren Diskurs zu führen, indem der Raum des Nichtwissens irgendwann den Raum des Gewussten und des Verstandenen an Größe überkam. Um den Bogen zu dem Zitat zu schlagen beende ich das damit, dass ich im Realitäts-Zugewinn dieses Raums all dessen was ich nicht sehe, verstehe oder weiß einen großen Segen zu entdecken lernte, verglichen damit, was die Schule mich gelehrt hatte, dass man sich eben anstrenge und Meisterschaft erwürbe, irgendwo ankäme oder irgendwann Weisheit erlange. Es gibt viel mehr zu entdecken auf der Welt und sie ist geheimnisvoller und vielversprechender, wenn man anerkennt, dass alles was man weiß oder kennt nicht mehr ist als ein Kiesel in einem Fluss durch den man watet.
Ich muss heute an all das denken. Es ist Kajeng Klivon, der Tag vor Neumond und auch der Tag vor Vollmond, er kommt also alle zwei Wochen im Balinesischen Kalender. Ich bin heute früh aufgewacht und musste als erstes denken, oh, es ist Kajeng Klivon, bloß nichts Schwieriges arbeiten, harte Diskussionen führen oder gar streiten. Und abends um 6 mit Freunden zu deren Urgroßvater fahren um ein Melukat zu machen, eine kleine Zeremonie für diesen Tag zur Reinigung. Kajeng Klivon ist der Tag, an dem unangenehme Geister herumschwirren, komische Energien unterwegs sind. Und hier spielt die Mondtätigkeit eine große Rolle. Balinesen pflanzen nur an Vollmond oder den drei Tagen danach, machen besondere Opfer heute und morgen sowie natürlich in zwei Wochen. Mir wurde der Tag vorgeführt als ich vor ein paar Monaten bei balinesisch-deutschen Freunden war und Zeuge wurde eines Streits der beiden Töchter, der total eskalierte. Die Eltern sagten nur, an Kajeng Klivon musst du mit sowas rechnen, fang bloß keinen Zwist an mit irgendjemandem, an Kajeng Klivon wird das viel schlimmer als man es will. Später an dem Tag hatte ich ein hartes und unfreundliches Gespräch wegen einer Geschäftsidee, die ich hier seit geraumer Zeit mit 3 anderen überlege. Gleichzeitig hatte ich meine Mails gelesen und den verheerenden Abschluss studiert für die Freiburger GmbH. Als ich danach bei meiner älteren Freundin Dina aus New York auf der Couch saß zum Café schaute sie mich nur an und sagte «you seem overwhelmed» (überwältigt), und sie schickte mich heim mit der Aufforderung, mich hinzulegen und eine Sonate von Beethoven zu hören, wonach es mir wieder gut ging. Ihre Angestellten, die immer um sie rum sind, seit sie einen Unfall hatte und nicht gut beweglich ist, raunten mir zu «Today is Kajeng Klivon» — mein Kumpel Ardi sagte mir später, sie würden abends in den Tempel gehen für 20 Minuten, zum Melukat, ich soll das mal probieren. Und seitdem hatte ich das gemacht. Bis heute, wo ich mittags dort anrief und sagte, ich würde heute nicht kommen. Es kann nicht sein, dass ich diesen Tag nur aushalte, wenn ich abends zum Priester gehe. Sonst ziehe ich ja schon im Kopf alle möglichen komischen Gedanken an, nur weil ich weiß, dass Kajeng Klivon ist. Und mir wurde nur geantwortet «Dann mach halt was anderes! Ist doch kein Problem!» — und deswegen habe ich mir dann vorgenommen, wieder mal etwas zu schreiben. Und um die Kurve zu kriegen zu den Dingen des Lebens in Schichten und dem Ganzen was man nicht weiß: Vor zwei Wochen hatte ich meinen Freund Martin aus Braunschweig gefragt, ob er mitkommen mag zur Zeremonie, weil er vorab danach gefragt hatte. Er hatte was vor und sagte ab. Am nächsten Tag war ich zufällig bei ihm wegen was anderem und er sagte mir «Wir waren Sushiessen gestern Abend, Mann war das ein Schei**, die Bedienung hat sich permanent verzählt, dauernd das Falsche gebracht, und sie war partout nicht bereit ihre Fehler einzusehen. Und ich habe mich so aufgeregt, dass ich meinen Appetit verloren habe und später noch mit meinem Freund gestritten habe, und ich weiß gar nicht, warum ich mich so aufgeregt hatte, war ja eigentlich überhaupt nicht tragisch…» — Ich sagte nur «hmmm…» und er kriegte diese Verstehaugen und meinte «Kejeng Klivon, na klar». Und da gibt es Tage, wo man sich so streitet und Porzellan zerschlägt und Risse in seine Beziehungen haut — verharrt man dort, wo wer denn Recht hatte, wer denn angefangen hat, wer böser war und meint, man könnte den Knoten auf diese rationale Weise entwirren, dann kann es — zumindest in Bali — auch sein, dass da etwas ist, was du einfach nicht weißt, womit du vielleicht nicht gerechnet hast — und das ist nur eine der Lehren, die mir hier über den Weg laufen. Nicht dass alles stimmt, woran man hier glaubt, aber gerade diese Sache scheint mir viel Plausibilität zu haben. Hatte ich mich selbst doch oft genug in Situationen gesehen, die eskalierten, ob bei mir oder außerhalb von mir, und man weiß gar nicht wie einem geschieht.
Ich möchte das nun wieder öfter machen, diese Mitteilungen. Es gibt auch ‘ne Menge zu erzählen. Vom Haus, vom Geschäft, vom Leben hier, die groteske Vorstellung von mir plötzlich zuständig für verschiedene produktive Gärten und keinen Tag ohne Schmutz unter den Nägeln. Aber das kommt das nächste Mal. Ich hoffe, das hier war nicht zu trocken, wie immer vermisse ich alle, hoffe, es geht rundum gut, so gut es geht oder vielleicht auch blendend. Kann nicht sagen, wann ich komme, die Impfsituation ist einfach saublöd, weil wenn ich komme, dann komme ich momentan nicht hierher zurück ohne vollständige Impfung. Auf bald, Ihr machts weiter gut, gebt gern auch Lebenszeichen, passt gut auf Euch auf, ganz liebe Grüße, Niklas