«Neue Normalität»

Ein merkwürdiger Begriff, der seit ein paar Wochen auf Bali die Runde macht, die Neue Normalität, erschreckend in seiner Unklarheit, verstörend in seiner Bedrohlichkeit, mit einer Spur Zynismus. Hier hat sich ja nicht wirklich viel geändert seit März. Viele Covidfälle gab es eh nicht, auf Nusa Lembongan, der kleinen Insel auf der wir seit Sonntag in den Ferien sind, gab es gar keine Infektionen. Aber alles ist tot, und ja es gab deshalb keine Infektionen, weil niemand auf die Insel durfte und weil die Leute aus Lembongan eher Fischer sind, kleine Warungs haben oder Bars und nicht auf Kreuzfahrtschiffen arbeiten (die Quelle für die wenigen Covidfälle, die es auf Bali gab). Während man gleichzeitig sieht, dass es in Nordamerika täglich schlimmer wird und dass überall dort, wo die Lockerungen betrieben wurden, stets schnell kritische Zustände drohen; während man hört, dass Spanien plant, den Sommertourismus noch voll mitzunehmen, um dann Anfang September ganz dichtzumachen und selbst die Schulen wieder zu schließen, dringt der Zynismus des New Normal ganz deutlich durch: Normal, dass es trostlos ist und bleibt, dass man auf Bali weiter in die Armut steuert, dass vermutlich kaum Touristen kommen, wenn man am 11. September (eigenartige Wahl für das Datum) Bali wieder fast vollständig öffnet. Bleibt das rein Formale: normal, dass man immer eine Maske anhat, sich überall die Hände wäscht, allerorts Temperaturen gemessen werden und Tische in Restaurants weit auseinanderstehen müssen, dass Zeremonien eventuell nicht stattfinden dürfen, Gruppen nicht größer als 10 Leute sein können. So ganz erschließt es sich nicht. Während das Problem noch längst nicht gelöst ist und die Pandemie immer noch andauert von neuer Normalität zu sprechen, scheint im besten Fall unüberlegt.
Ich hoffe, dass die neue Normalität sich hier in die Richtung entwickelt, und einige Leute aus der Provinzregierung sprechen auch darüber, dass man das Modell Bali wirklich neu denkt, sich unabhängiger macht vom Massentourismus, dass man schaut, dass die Geldgier wieder ein Stück weit aus dem Balinesischen Alltag verschwindet und die eigentlichen Balinesischen Werte wieder mehr Geltung bekommen. Das wäre das Beste, was den Balinesen passieren kann, selbst wenn es heißt, dass eben nicht jeder ein iPhone hat und den tollsten Roller mit blauem Licht unten drunter. Und man hört das auch von vielen Menschen hier, dass es in dieser ganzen Blase, die Bali so verändert hat, seit es den Bali-Hype gibt, viel zu viel Beton auf der Insel verbaut wurde, dass man an manchen Orten kaum noch atmen kann. Nyoman, unser Wirt hier am Strand mit seinen kleinen Häusern, ohne Pool, ohne Bar und Restaurant, aber mit einem der einfachsten wie angenehmsten Plätze am Sandstrand, sehnt sich danach, dass die Balinesen zurückfinden, sich besinnen. Er ist grundsätzlich glücklich und akzeptiert, was immer kommt. „Alle hier sind ärmer geworden, alle machen keinen Profit, alle sitzen herum mit ihren Familien und lassen tagsüber die Drachen steigen…“ Er sagte das, als ich ihm 2 Visitenkarten einer kleinen Warung am Ende des Strandes gab. Es mache keinen Sinn, warum sollte man den einen empfehlen, warum soll es einem besser gehen, sie säßen alle im selben Boot, einem Boot ohne Marketing und Werbung. Geduld, Ruhe, Abwarten, sehen was kommt, das Leben akzeptieren, es nehmen wie es ist. All das scheint auf der kleinen Insel sehr viel leichter als im betriebsamen Bali.
Das Leben hier ist reduzierter. Als wir angekommen sind und hungrig waren, sahen wir einen kleinen Laden, der ein Schild „Offen“ draußen hatte. Reingekommen, sagte die Wirtin, sie habe nur Gado Gado, mehr nicht, eben das, was gerade mal da war, fast entschuldigend sagte sie das. Und wir nahmen es gerne. Es ist schön bei allem Mitgefühl für die massiven Veränderungen hier, dass man das einfache Leben entdeckt. Heute sind wir auch um die Insel gefahren, als wir mittags hungrig waren. Nahezu alles war dicht, lediglich am Südende nach dem Mangrovenwald fanden wir einen Indonesischen Imbiss mit Padang-Essen. Was waren wir froh, dass unsere Freunde in Ubud uns diese Details nahegebracht haben, sonst hätten wir nie angehalten… Padang-Essen ist in Form von Buffet-Imbissen überall in Indonesien zu finden. Man sucht sich aus, was man haben will und isst es in der Temperatur, die es eben hat. Padang (auf der Höhe von Singapur) gilt als eine ausgezeichnete Küche, und das Essen ist gut verträglich. Wenn man es wärmer haben will, dann nimmt man eben Chili dazu, da geht es dann schnell…
All die Ausflüge, Boote zum Schnorcheln, Korallenriffe, Trips nach Penida, nichts davon ist möglich. Frischen Fisch kaum, Huhn immer. Aber man muss suchen. Heute hat es den Weg über vier Stationen gebraucht, um an frisches Geld zu kommen, selbst die Geldautomaten sind auf Sparflamme.

Zuletzt waren wir sehr betriebsam, da wir viele Veranstaltungen bei Naya mitgemacht haben und viele neue Leute kennengelernt hatten, mit denen wir unter anderem auch Sarahs Geburtstag gefeiert haben. Es ist eine sehr schöne Community dort in Umadawa, und wir sind froh, da hineinzuwachsen. Das Projekt entwickelt sich sehr schön und verspricht, etwas ganz Besonderes zu werden.

Nächste Woche wird es spannend. Bevor Sarah am Donnerstagnacht fliegt, falls das überhaupt klappt, wollen wir noch prüfen, ob wir den Rocco hierherbekommen, in einer Form, die human oder eben canin ist. Ich habe einen Termin gemacht mit einer Firma, die dergleichen anbietet. Wir sind ja mittlerweile entschlossen, in dem Modus Asien/Europa zu bleiben, wenigstens ansatzweise, ggfs. ein wenig mehr Bali als Europa. So dachten wir, dass wir uns wenigstens mal die Fakten geben lassen, wie das möglich wäre und was auf den Hund und uns zukäme. Da Sarah erstmal in Quarantäne gehen muss und ansonsten auch ihre Pläne hat, bleibe ich erst einmal hier, gerade auch um abzuwarten, was in Europa passiert. Natürlich sehne ich mich nach vielen Menschen, die mir nahe sind, aber gleichzeitig muss man ja auch wissen, was man dann macht und wo man ist. Das scheint mir, Sicht heute, unmöglich zu sagen. Wir hatten überlegt, wieder bei Oli den Herbst zu starten und den Winter in Portugal zu sein (in Lagos, wo wir letztes Jahr waren, hatte es gerade mal 100 Fälle gegeben), aber in einem Telefonat mit Oli gestern, brachte er da große Zweifel auf, da Teile von Spanien anscheinend jetzt schon wieder in Lock down gehen, ab Anfang September soll das wohl weitergehen. Später kam noch eine Info einer Bekannten, die gerade auf Mallorca war und eigentlich in Spanien überwintern wollte. Sie sagte, dass die Spanier den Sommertourismus mitnehmen wollten, dann aber alle Tore schließen. So wissen wir wieder nicht, wie das gehen soll. Wir wissen also jetzt immer noch nicht wirklich viel, schauen aber aufmerksam darauf, was im Westen passiert.

Antonio aus Vicenza schrieb mir dann später, dass es in Italien noch nicht zu so dramatischen Wiederausbrüchen kommt, aber deswegen, weil sie dort, nach den Erfahrungen im Frühjahr, super streng sind, immer noch. Die harten Regeln für alles, inklusive Optionen für strengeres Vorgehen, sind nun bis 31.10.20 verlängert worden.

Wie so oft während der Pandemie fühlt man sich widersprüchlich informiert, wenn man die Statistiken betrachtet. Und ein wenig ratlos, was die Planung und die Aussichten angeht.

Mit dem Team in Freiburg haben wir besprochen, dass es so weitergehen wird mit dem remote Arbeiten. Es klappt gut, und es ist positiv aufgenommen worden. Es scheint, dass sich Freiburg als feste Produktionseinheit herauskristallisiert, wir dann ein- oder zweimal im Jahr dazukommen, notwendige Workshops abhalten. Ansonsten die Firma fernsteuern, wie ja auch dieses Jahr so ganz anders läuft als letztes. Ich habe seit Februar eine große Menge an Projekten bearbeitet und war in viele des Teams aktiv involviert, Sarah macht ohnehin ihre Arbeit in Administration und Projektmanagement. Vor zwei Wochen haben wir eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt, die über Naya abgewickelt wird, ein Projekt, in das wir mehr und mehr involviert sind. Aufregend.

Nichtsdestotrotz wäre ich gerne im September zurückgekommen und denke auch immer noch, dass das klappen könnte. Offenbar hängt es von der Vernunft der Menschen in den Brennpunkten ab, na, das wird ja schon gut gehen. Eine weitere Möglichkeit ist auch, dass ich länger hierbleibe und erst im Winter nach Deutschland fliege, Weihnachten da bin und im Januar noch ein wichtiges Buch drucke (in Italien), sofern das eben geht. Sarah und ich haben vereinbart, dass wir jetzt erstmal schauen, wie es wirklich ist, sie wird das ja sehen, und wie es im Laufe des August wird. Dann entscheiden wir.

Jetzt ist es 6 Uhr morgens, ich sitze am Strand, wo jemand einen kleinen Holztisch hingestellt hat. Die ersten einheimischen Surfer machen sich auf den Weg raus zum Riff, hier sind massive Wellen und es ist immer noch etwas Flut. Die uns zugewandte Seegras-Produktion ist immer noch unter Wasser. Die findigen Balinesen von Lembongan haben im Frühjahr, als ihre Lebensgrundlage zerbrach, die Säume nach den Riffen teilweise in Seaweed-Plantagen umgewandelt. Laut Nyoman ist das ein guter Markt. Wie so oft allerdings machen die einen nur die Fußarbeit, pflanzen, ernten, können es aber nicht in etwas umwandeln, das Geld bringt. So verkaufen sie ihren „Rohstoff“, der dann außerhalb Balis in Nahrung oder Pillen umgewandelt wird. Und wieder in Bali verkauft wird. Das erlebt man hier oft, leider.

Es ist noch frisch, Sarah macht Yoga-Atemübungen, um richtig wach zu werden, Nyomans Bruder wartet in einer Stunde bei den Mangroven auf uns. Er nimmt Nyoman und uns mit auf eine Tour, wo wir bei Manta Bay schnorcheln können, wo es anscheinend sehr viele Mantas gibt sowie allerlei tropisches Getier. Nyoman nimmt eine große Angel und hofft auf einen 2.5 kg schweren Thunfisch, den er am Abend am Strand grillen möchte. Später fahren wir dorthin, wo die Strömung so stark ist, wir hatten das letztes Jahr schon einmal gemacht: Das Boot wird losgelassen ohne Motor, wir sind im Wasser, die Strömung reißt uns alle miteinander in einem Affenzahn ca 400 Meter um das Eck nahe dem Mangrovenwald herum, was wirklich sensationell ist. Wenn zu solchen Anlässen früher hart verhandelt wurde, so sieht das jetzt so aus, dass die Leute leicht verzagt einen viel zu niedrigen Preis nennen, damit wenigstens irgendwas reinkommt. Man fragt dann, ob das denn wirklich genug sei, da sei doch wahrscheinlich gar nichts verdient. Auf die Antwort kommt dann unsererseits eine deutliche Verbesserung des Preises, weil das ja gar nicht anders geht. Uns wollten sie zum Spritpreis mitnehmen. Jeder ist aus der Übung. Nyoman hat sich geziert, er meint, wir seien ja jetzt schon Familie, wir waren ja auch letztes Jahr bei ihm. Und seine Familie ist groß, 500 Meter in alle Richtungen, nur seine Familie. Aber sie müssen ja auch leben. Vorbei also der Zugang, dass man veralbert wird und hart verhandelt, wie ansonsten hier üblich. Man zankt ein wenig herum, bis sie dann doch ein wenig dran verdienen.

So, jetzt muss ich mal mein Zeugs einpacken. Noch ein paar Akkus laden, Handtücher einpacken. Bald geht es los. Nyoman war so nett, uns ein billiges Bungkus, also ein kleines Takeaway-Frühstück zu besorgen, bissel Reis, bissel Gemüse für 60 Cent. Die Bootsfahrt wird nicht unanstrengend, wir fahren ca 45 Minuten bis an die Felsen von Nusa Penida, dann ab ins Wasser.

Zwischentrag: Das war ein klasse Ausflug, wenngleich anders als letztes Jahr. Weil es kaum Touristen gibt, war nichts los auf dem Wasser. Und in Manta Bay wimmelte es von einigen sehr großen Mantarochen. Das sind nicht die, die stechen. Ganz ungefährlich aber erschreckend von Angesicht. Wie riesige Fledermäuse, dabei, wie Nyoman berichtete, sehr verspielt, sie „mögen es mit den Touristen zu fliegen“, sagte er. Das Wasser war sehr bewegt und es war eigentlich kalt. Ich habe kaum etwas gesehen unter Wasser, aber Sarah hat in einer Mischung aus Begeisterung und Panik sehr lange im Wasser ausgehalten.

Keine Haiflosse, ein Manta, vielleicht 2 Meter groß

Danach waren wir in der Crystal Bay, wunderbare Korallen und unendlich viele Fische. Und zum Abschluss sind wir noch ein wenig weiter rausgefahren, damit Nyoman doch noch einer anbeißt, wurde aber nichts. Er sagte, er würde diese Gelegenheiten immer nutzen, da die Bootsfahrten teuer sind wegen des Sprits, er kann sich eine Angeltour nicht leisten, wie die meisten. Aber es wurde leider nichts, der große 2.5 kg Tuna war heute cleverer. Bei Mangrove Point haben wir uns wieder ins Wasser gelassen und der Strömung überlassen, die wirklich massiv ist. Anders als letztes Jahr hat sie uns aber nicht in die Korallengräben geführt, sondern in eine Seawees-Plantage, die alsbald so flach wurde, dass wir fast mit den Bäuchen am Boden schlitterten. Und wir wollten ja nichts kaputt machen. Also haben wir geschaut, dass wir schnell wieder rauskrabbelten, Sarah hat dann leider noch Erfahrungen mit einem Seeigel und einer leicht giftigen Koralle gemacht, aber das einzige bekannte Heilmittel dafür war schnell zur Hand. Alles gut also.

Jetzt sind wir zurück, ausgeruht, es hat kurz geregnet, aber nur ein Witz. Auf Lembongan reicht es nicht für Landwirtschaft, vielleicht ein paar Papayas, Bananen, die eine oder andere Melone. Ansonsten Fisch und Geflügel, alles andere muss eingeführt werden von Bali. Nach Corona machen sie sich hier sehr viele Gedanken, ob sie nicht grundsätzlich einige Sachen ändern sollten, Nyoman sagt, „besser halb-halb arbeiten-Hotel haben“, ja, unabhängiger werden klingt gut hier in Nusa Lembongan. Und den Rest des Tages sitzen sie im Gras. Haben sich stets was zu erzählen und amüsieren sich, dass wir hier immer wieder mit dem Laptop rumsitzen und arbeiten. Sie verstehen schon, dass auch wir arbeiten müssen, aber so ganz schafft der Kopf es nicht, das einzusehen. Wir sind die Buleh, die Westler, Langnasen, die die sich amüsieren, Spaß haben, die ganzen Annehmlichkeiten Balis genießen und das Geld dafür haben. Die Welt ist schwer zu verstehen für die Leute, also versuchen sie es nicht, sondern lachen mit uns, auch wenn es ein wenig über uns ist. Kein Problem, Sen Ken Ken, wir können das nehmen, sehen wir uns doch selbst in einer eigenartigen Situation seit Covid und suchen unseren Weg darin. Es wird traurig, morgen Abschied zu nehmen. Ist schon so, wenn einer immer sagt, Ihr seid jetzt Familie, dann fühlt es sich bald schon ein wenig so an. Und für Nyoman ist das ein sehr weiter Begriff, mal nennt er diesen seinen Bruder, den seinen Onkel, bis kurz darauf klar wird, dass er von einem jahrhundertealten Familien-Baum spricht, in dem längst nicht mehr klar ist, in welchem Grad wer mit wem verwandt ist; so dehnt er den Begriff mit Leichtigkeit immer weiter aus. Gestern zeigte er auf einen alten Mann, der mit einer kleinen Schere den Rasen schnitt, also mit einer Bastelschere fast. Sagte: Das ist mein Vater, also mein Boss, also dem gehört das alles, also meins gehört ihm, aber er ist nicht der Vater meines Bruders — und als wir dann immer verwirrter wurden, setzte er an, das Ganze zu skizzieren, schnell überfordert von den Reihen Verwandter, die zu einer Gruppe anschwollen, einer Masse. Ein Viertel der Bevölkerung hier sind seine Verwandten. Na, wer soll da noch durchblicken. Hier noch Bilder vom Nachmittag und Abend.

Ihr machts mal gut und passt schön auf Euch auf. Es sei sehr heiß bei Euch, hört man. Hier ist es wie immer. Viele liebe Grüße, Niklas