Die Straße des Affengottes

Der Affengott Hanuman ist einer der prominenten Hindugötter, Sohn Vishnus oder eines anderen bekannten Windgottes, da streitet man sich, ist so etwas wie Loki in unserer Hemisphäre, also ein machtvoller und im positiven wie negativen Sinn verspielter Unsterblicher. Wie bei Loki weiß man nie genau, ob seine Streiche einem Ziel folgen oder einer Laune. Liest man die Geschichten, hat man den Eindruck eines Wesens, das permanent wie betrunken ist von seinen Mitteln, er kann ein Riese sein und ein Zwerg, nimmt alle mögliche Gestalt an, er versetzt Berge und fliegt schnell wie der Wind. In den Legenden wird nicht einmal klar, ob er Launen folgt, oder schlichtweg sich selbst und seiner unglaublichen Möglichkeiten nicht bewusst ist.

Hanuman-Café

Diese Tage kam mir der Gedanke, ob Hanuman nicht auch ein Symbol für uns Menschen in einer globalisierten Welt ist. Heute bekam ich eine eMail von meinem Freund Matthias aus Nizza, die zum ersten Mal seit wir uns vor 27 Jahren kennengelernt haben, von Ratlosigkeit bestimmt war, angesichts dessen, was um uns herum seit Wochen passiert. Ratlosigkeit und Ungläubigkeit darüber, wie unsere Welt, die so hochentwickelt ist, deren Wirklichkeit von “gottgleichen” Wesen in ungeheurer Machtfülle, deren Mittel grenzenlos scheinen, gestaltet wird, innerhalb kürzester Zeit in sich kollabieren kann. Mir geht es genauso, wohin auch immer ich schaue oder was ich lese… ich staune angesichts der Tolpatschigkeit der zivilisierten Welt, die sich einem Feind beugt, der es nicht einmal schlecht meint, keine bösen Absichten hat und uns zu etwas auserkoren hat, was uns demütig machen sollte, wo wir Menschen uns doch ansonsten so wichtig nehmen, nämlich zu Wirten für einen Virus.

Dieses Gefühl allein ist allerdings eben nur eine Sache. Etwas anderes ist es, zu lesen, wie schlecht die Welt vorbereitet war, zumindest die meisten Länder, selbst als die Italiener schon aufschrieen: “Lernt von uns, macht nicht den gleichen Fehler, werdet aktiv!” — Passierte in Europa, passierte in den USA. Nun kommt die zweite Welle nach Japan. Die Welt scheint mir wie ein Spielzeug in den Händen tolpatschiger selbsternannter Götter, die keine Ahnung zu haben scheinen, was für Konsequenzen ihre Taten hatten und welche das Ausbleiben von Taten jetzt haben. Die Corona-Krise bringt so vieles an den Tag, so vieles, was das Bild hervorruft vom Zauberlehrling, der Geister rief, die er nun nicht mehr los wird. Und mir schwant, dass das, was wir nicht lesen, viel schlimmer ist, was die Zahlen betrifft oder was im Hintergrund passiert. Wie könnte man sonst ein derartiges politisches Feuerwerk veranstalten, wenn es nach 100 Tagen Corona weltweit 70.000 Tote gibt, während es im selben Zeitraum bereits 130.000 Tote der ordinären Grippe gab, die erfasst wurden, 2.2 Mio Krebstote, 600.000 AIDS-Tote, 270.000 Malariatote, 11 Mio Abtreibungen, 2 Mio mal Kindstot, 360.000 Verkehrstote, 3.5 Mio Tote infolge von allgemeinen Krankheiten. Alles schwer zu verstehen. Mein Facebook-Freund Benjamin aus dem Elsass, ehemaliger Spitzeneinkäufer für ein großes französisches Unternehmen in Indonesien, der sich hier auf eigene Kosten durchschlägt und mit dem Ersparten eine kleine NGO aufrecht erhält, um Aufklärungsarbeit für Weltgerechtigkeit zu leisten, ein wirklicher Mahner, schrieb letzte Woche: «Wie kann es sein, dass wir in eine Weltwirtschaftskrise kommen, wenn jeder nur noch das kauft, was er wirklich braucht?!» Sehr interessant! Richtig, da stimmt so vieles überhaupt nicht!

Nun wünschen sich viele Menschen, dass es bald vorüber sei, dass man bald wieder zurückkehren kann in den Alltag mit Shopping, Biergarten, Fußballspielen, dem Schwelgen in ausreichenden Reserven von Klopapier oder auch nur dem Genuss eines Kaffees auf dem Marktplatz nach dem Samstagseinkauf — so verständlich das ist, so sehr erschreckt es mich, dass voraussichtlich keiner wirklich lernen wird aus der Krise. Als wir nach Ubud kamen, hatte ich mir das neue Buch von Naomi Klein mitgenommen, “Green New Deal”, eine Sammlung von Reden und Aufsätzen, die die kanadische Aktivistin in den letzten 10 Jahren auf Kongressen, vor Studenten, selbst am Vatikan gehalten hat. Wie sie schreibt, erklärt sich der Lebensstil, der in der westlichen Welt mehrheitlich gelebt und gefeiert wird, aus sowohl den durchaus teilweise positiven Ansätzen von Rooselvelts New Deal sowie aus dem klaren republikanischen Drive zu Konsum und einer Vollendung des kapitalistischen Lebens, der mit Reagans Präsidentschaft begann. Die Welt ist natürlich schon viel länger in den Dispositiven von Verbrauch und Missbrauch gefangen, aber das dies zur Ethik der ersten Welt und des normalen Menschens wurde, scheint historisch dort festgemacht werden zu können. In einer Hauruck-Aktion hatte Roosevelt dem Land in kürzester Zeit eine Infrastruktur gegeben, die das Menschsein zelebrierte als Krone der Schöpfung: Parks um sich zu ergehen, Kaufhäuser um sich zu zerstreuen, Autos für jeden, um sich zu mobilisieren. So grandios das war, so vernachlässigte die Politik, den Fragen nach Gerechtigkeit und Gemeinwohl nachzugehen sowie dem Umgang mit Ressourcen, richtete sie sich lediglich darauf, dass eine Welt sicher wird, in der die Menschen glücklich und zufrieden und ohne viel mit Fragen und Problemen konfrontiert zu werden, einkaufen und unterhalten werden — Grundmodus: verbrauchen. Als Reagan viele Jahre später mit dem Slogan siegte, Amerika wieder groß zu machen, kam das Element Erfolg um jeden Preis dazu, Reichtum, Ressourcenkontrolle, Macht. Das amerikanische Modell, dass jemand heroische Erfolge feiert und reich wird wie ein Märchenkönig und mit absoluter Sicherheit dann etwas abgibt, sogar mehr als dass der König Krümel von seiner Tafel fallen lässt, beruhigt das Gewissen seit vielen Jahren und hat sich ins Genom der westlichen Welt vollständig eingeschrieben. Heute lesen wir, dass Bill Gates 2 Milliarden investiert, um einen Impfstoff zu finden, wieder ein neuer Gott, der mit der Welt spielt, gut gemeint, aber wieder fehlt das Bewusstsein, dass die Welt gerade einen massiven Weckruf erhalten hat, der mehr erfordert als einen neuen Impfstoff. Corona ist schlimm, kann aber nicht verglichen werden damit, was der Klimawandel mit uns anstellen wird. Eigentlich sollten wir dankbar sein, dass nun alle Menschen die Füße stillhalten müssen, denn es wäre Raum da für große Veränderungen, für ein globales Umdenken, für eine breite Diskussion, ob das Modell des Missbrauchs von Ressourcen und des Verbrauchens um jeden Preis wirklich immer noch unser Weg sein soll, oder ob Gemeinwohl und Klimagerechtigkeit nicht Themen sein sollten, denen man sich mit Bescheidenheit, Demut und einem offenen Geist und geöffneten Börsen hingibt und beginnt, dabei Menschen zuzuhören, die wissen, auf was es ankommt, was passieren werden wird und die uns erklären können, dass es wesentlich schlimmer ist, den Lebensraum ganz zu verlieren als für ein paar Monate der Wirt eines Virus’ zu sein.

Viele Menschen kommen über den Punkt offenbar nicht hinaus, dass sie denken, die Welt ginge kaputt und man selbst könne ja eh nichts machen, sei man doch machtlos. Diese Machtlosigkeit kommt aber nur daher, dass sie nicht nachdenken. Wir machen die Welt nicht kaputt. Der Welt ist es egal, wie das mit dem CO2 ist, ob das Wasser steigt oder es Stürme gibt. Die Welt hat keine Agenda, und sie hat sehr viel Zeit. Was wir kaputt machen, ist unser Zuhause. unser Lebensraum. Wir machen genau und mit Präzision in unserer Tolpatschigkeit, was der Virus macht, wenn er aus Versehen eine Lungenentzündung bei uns auslöst: Wir machen unseren Wirt kaputt.

Wenn man sich das wirklich mal überlegt, zum Beispiel, dass wir nur noch 10 Jahre so weitermachen können wie zuletzt und dann der Klimawandel umumkehrbar wird, und wir dennoch jetzt nicht mit massiven Veränderungen reagieren, obgleich von der Pandemie kalt erwischt und mit viel Freizeit und Stoff zum Nachdenken ausgestattet, dann werden die Bilder vom Gott, der sich seiner Macht nicht bewusst ist, vom skrupellosen Loki, der — selbst unsterblich — einfach nur Spaß haben will, vom Zauberlehrling oder schlichtweg vom Elefanten im Porzellanladen sehr deutlich. Nur dass wir eben keine echten Götter und absolut nicht unsterblich sind.

Die Gassen rund um die Straße des Affengottes sind ausgestorben. Gestern war ich mit Sophia Besorgungen machen, soweit es ging. Sie wollte eine neue Yogahose aus dem Recycling, ich war auf der Suche nach kleinen Pumpflaschen; heute soll es losgehen mit der Produktion des Desinfektionsmittels, die mich letzte Woche sehr auf Trapp gehalten hat. Alle Möglichkeiten, Ethanol oder Isoproylalkohol zu bestellen, sind gescheitert. Nicht nur, dass es in Indonesien eh schwierig ist, da es immer Alarm gibt, wenn jemand größere Mengen Alkohol bestellt, er war zudem überall ausverkauft. Unsere Vermieterin, deren Mann der Banjar-Boss ist, also so eine Art Generalsekretär des Stadtviertels, hat sich erboten, über ihren Tischler den balinesischen Schnaps Arak zu besorgen, der mit 80 Prozent aus Ost-Bali kommt. Heute sollen die ersten Flaschen ankommen. gestern sind die Besorgungen alle gescheitert, heute gehe ich nochmals raus, habe drei Adressen gefunden von Parfum-Lieferanten entlang der Hauptstraße nach Denpasar, die mit Flaschen handeln. Ansonsten bringen die Javanesen, deren neues Startup (Java-Rezepte zur Immunisierung) eines Bekannten von Sarah, ausgehend von einem Laden für Ölessenz unseren Speiseplan seit gestern befeuert, heute Mittag mit dem Essen den Rest, den ich bei ihnen bestellt hatte: Glycerin, Trichter, Ölessenz. Also brauche ich nur noch Aloe (von meinem Bauer), und einen Mixer für den Aloesaft und einen Messbecher kaufe ich heute im Supermarkt. Über Facebook habe ich gebrauchte und leere kleine Flaschen in einem Aufruf angefragt, vielleicht bekomme ich heute aber noch 50 bis 250 neue.

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Damit dieser Bericht nicht so verzweifelt klingt, freue ich mich zu melden, dass es viele Unternehmen gibt, die sich umgestellt haben auf nunmehr wichtige Produktion. Ob Bierbrauer Alkohol abzweigen für Desinfektionsmittel, 3-D-Drucker Gesichtsschilder drucken für Krankenschwestern, es ist klasse zu lesen, wie manche Menschen kreativ werden. Hier ist ansonsten alles beim Alten, lock down, keiner kommt rein. Wenige kommen raus. Heute wäre der Tag gewesen, an dem Sarah und Sophia heimfliegen, aber der Flug ist storniert, und in Zürich in die Quarantäne zu gehen wäre auch keine echte Option gewesen. Also machen wir weiter morgendliches Yoga (ich nur alle zwei Tage, es verspannt doch sehr) unter Sarahs Anleitung. Die Arbeit ist noch nicht ausgegangen, allerdings ist es bereits ein Jahresumsatz, der dank der Krise ausfällt, Soforthilfe und Kurzarbeit sind beantragt. Ein Trost ist immer noch, dass man als Unternehmer doch machtlos ist, hatte ich ja neulich schon geschrieben. Meinem Freund geht es genauso — es hilft, dass man sich nicht denken muss, man hätte versagt. Ich lese immer noch zuviele Zeitungen und verfolge zuviele Statistiken. Ich wünschte, mir ginge es wie Oma, unserer 20-Jahre alten Hauskatze, die sich an ihre tägliche kleine Milchgabe gewöhnt hat und viele Stunden des Tages mit uns verbringt, zumeist müde, immer geschwätzig. Mal liegt sie neben den Yogamatten, mal darauf, seit gestern finden wir sie auch manchmal im oberen Fach des Küchenschranks. Erstaunlicherweise die erste Katze seit fast 40 Jahren, die ich wirklich schätze, bin ja ansonsten kein Freund von diesen egoistischen Primadonnenwesen. Unser Radius ist klein, aber wir haben bereits ein paar extra Kontakte, zu wie z.B. sehr schönen Croissants, die es in einem Café am Fußballplatz gibt, sowie Sauerteigbrot, wie gesagt das Mittagessen, den Bauern mit seinem Gemüse… gestern habe ich gesehen, dass der Weinladen offen hat. Gottseidank, dies ist ja das Ende der Fastenzeit. Wie Gail Collins von der New York Times, die schrieb, “ich höre von Leuten, die Klopapier horden, also bei uns wäre das eher Wein…” kann ich mir den Lockdown mit ein wenig Wein auch ganz gut vorstellen, waren wir doch dieses Jahr sehr brav mit nur einem krisenbedingten Ausrutscher im Bridges in 6 Wochen. Oder sagen wir 5,5 Wochen, erfahrungsgemäß lahmt meine Motivation, wenn ich das Ziel vor Augen sehe…

Oma gähnt uund zeigt die letzten Zähne

Ich will von Oma mehr Gelassenheit erlernen, mehr im Augenblick sein, wobei das eigentlich schon ganz gut geht. Ich wünsche Euch Gesundheit und dass Ihr kreativ seid in der Gestaltung Eurer neuen Wirklichkeit. Dass Ihr Unterstützung findet und Möglichkeiten, selbst zu unterstützen. Passt gut auf Euch auf, liebe Grüße, Niklas