Occitània
Donnerstag Mittag waren wir noch in Bonn mit Sophia und Grischa, gestern am frühen Samstagnachmittag kamen wir hier in unserem Haus, 18 km vor Agde am Herault an. Die Fahrt führte uns durch die Eiffel hinunter ins Minengebiet zwischen Mosel, Saar und Luxemburg ins französische Department Moselle und an dieselbe, wo wir dachten, einen der vielen schönen städtischen Stellplätze direkt am Fluss zu belegen, derer es so viele gibt. Doch falsch gedacht! Die Saison ist mitnichten vorbei, zumindest nicht für Camping-Caristen, wie man uns in Frankreich nennt. Offenbar werden die schulisch bedingt schwindenden Massen französischer Familien mit Kindern erfolgreich ersetzt durch holländische und deutsche sowie belgische Rentner — wieder einmal sind wir überrascht, wieviele es von uns gibt, die mit dem Van durch Europa gondeln. Nach vier Versuchen und ca 1 Stunden Irrfahrt entlang der wunderschönen französischen Mosel zwischen Metz und Nancy haben wir uns irgendwo am Ende eines Dorfes dann einfach an die Straße gestellt, sollen sie doch kommen, die Polizisten, wir haben alles versucht, gesetzeskonform zu nächtigen, allein es sollte nicht sein.
Gut geschlafen haben wir nicht, die ganze Nacht hörten wir die Autobahn, die auf der anderen Moselseite nach Süden führt sowie die Autos, die entlang unserer Landstraße vorbeidonnerten. Insofern gab es morgens um halb sieben einen kurzen Frühspaziergang am Fluss, einem der vielen Arme der Mosel, die teilweise immense Ausmaße erreicht, und wir fuhren weiter über Nancy Richtung Burgund, Beaujolais in die Vaucluse hinter Orange, wo wunderbare Weine der Sorte Côtes de Rhône gemacht werden. Es ging durch Chateauneuf-du-Pape, wo wir uns eine Weinprobe tunlichst verkniffen haben, nach Baumes de Venise auf ein Weingut, das uns mit offenen Armen empfing. Wie in Britannien gibt es auch in Frankreich ein Buch, vielmehr eine Liste mit Gütern, Hotels, Kneipen, Käsereien etc., die sich freuen, wenn Caristen eine Nacht bei ihnen stehen, die Strom und Toiletten oder manchmal auch Duschen anbieten und im Gegenzug nichts verlangen als einen freundlichen Gruß (wird zumindest behauptet); aber natürlich schaut man sich dann auch an, was die Gastgeber zu erzählen und im Angebot haben — und zumeist führt das zu angenehmen Gesprächen sowie Achats (Käufen).
Wir gingen, nachdem wir uns geduscht und eingerichtet hatten, bei der netten Dame vorbei und wurden eingeladen, das Sortiment von ca 8 Weinen durchzuprobieren. 17 Uhr ist eine schwierige Zeit, insofern mussten wir das ein wenig verkürzen, aber immerhin haben wir einen schönen Weißen mit einer angenehmen Muscatnote, sowie einen schwerern Rosé und zwei wunderbare rote Vaqueyras, einem in Barrique ausgebaut, probiert und auch mitgenommen. Schließlich waren wir auf dem Weg in ein 400-Seelendorf ohne nennenswerte Geschäfte. Wir hatten die Probe zusammen mit einem Paar aus Finisterre, dem Ende Europas, wie sie es nannten, was wiederum die Südiren und die Gallizier überraschen würde, aber wenn die Franzosen ihr Land schon für den Nabel der Welt halten, dann gilt das sicher noch stärker für die Bretonen und ihre Heimat — sie halten sich ja nicht einmal für Franzosen. Wieder einmal brachte das Gespräch in Erinnerung, wie aufregend unser Projekt eigentlich ist; man selbst gewöhnt sich ja an die Zustände, die man durchlebt und das eigentlich Spektakuläre daran ebnet sich mit der Zeit ein. Vielleicht geht es auch in der oftmals überwältigenden Menge der Eindrücke unter. Wir haben darüber auch mit meiner Patentante gesprochen: Eindrücke müssen sich setzen können, verarbeitet werden, ansonsten sind das nur kurze Reize und Schnappschüsse und werden vermutlich auch keine echten Erinnerungen. Auch deswegen sind wir nun für ein paar Wochen sesshaft geworden und das in einem wirklich kleinen Dorf. Haben wir doch über 6000 km quer durch Europa so viele phantastische Aussichten gehabt und so viele Eindrücke erhalten und dabei mehr und mehr das Gefühl gehabt, dies alles durchs Unterwegs-Sein quasi zu konsumieren. Im Englischen nennt man, wenn man sich etwas schnell und in zu großen Mengen reinzieht, binging (bindsching), also z.B. binge drinking (für Saufen) oder binge watching für suchtartiges Fernsehen. Wir haben vielleicht in zu kurzer Zeit so etwas wie binge travelling gemacht und müssen unsere leicht überreizten Synapsen jetzt erstmal beruhigen. Außerdem gibt es viel Arbeit zu tun.
Ausgeschlafen und nach einem schönen Spaziergang mit Blick auf den französischen Agung (Mont Ventoux), allerdings in sehr heftigem Mistral, der die Leute hier ein wenig verrückt macht, sind wir gestern früh zeitig los, um in Ruhe die 150 km hier rüber zu fahren, einen Einkauf zu machen und uns einzurichten. Auf dem Weg in der Gegend von Carpentras, wo ja früher immer die Spargelsaison eröffnet wurde, bis man weiter nördlich anfing, die Felder mit Gas zu fertilisieren und aufzuheizen, um den Spargel früher zu bekommen, kamen wir durch einen typischen südfranzösischen Ort mit einem grandiosen Markt — wir hatten ganz vergessen, wie toll das ist, am Straßenrand einfach alles zu bekommen, zumeist von den Produzenten selbst. Hier gab es Matratzen und Kurzwaren, aber eben auch gegrillte Geflügel, Würste, Käse aller Art, super Gemüse, Oliven und einen Fischstand, der der Waldkircher Fischtheke um nichts nachstand. Da wir heute Gäste bekommen, Sarahs Eltern kommen und bringen Sophia mit, die sich kurzentschlossen in Bonn in einen Nachtbus nach Freiburg geworfen hat und hier bei uns ihre Bachelorarbeit über Selbstdenken und Verantwortung beginnen will, nahmen wir neben einer ganzen Kiste Gemüse und Obst auch ein paar Scheiben Schwertfisch und einen Kilo-Pulpo mit, den ich gestern Abend gleich zubereitet habe; er kommt dann heute Abend nochmal kurz auf den Grill.
Vor ein paar Jahren haben sich einige Gegenden hier unten zwischen Montpellier und Carcassonne zur Region Occitània (Okzitanien) verbündet, was sicher auch ein starker Ausdruck ihrer Identität ist, denn Occitàn ist ihre Sprache. Die langue d’oc ist die härtere Form des Französischen, zudem noch gespickt mit eigenen Wörtern, die über die Jahrhunderte und viele Besetzungen dieses Durchgangs nach Spanien eingeflossen sind. Die Mauren haben hier gewütet und geherrscht, bis die Karolinger (Pippin) sie vertrieben haben, im 8. Jahrhundert. Im Mittelalter war diese Gegend eines der Epizentren der Häresie, also der Ketzerei aus der Sicht Roms. Die Albigenser lebten hier in großer Zahl, Kollegen quasi der Katharer, die weiter Richtung Pyrennäen angesiedelt waren. Grundsätzlich waren die südwestfranzösischen Grafschaften und Barronien Paris und dem christlichsten König gegenüber eher abweisend, insofern haben sie die Häretiker in vielen Fällen gewähren lassen, schließlich bildeten sie auch tüchtige Kommunen, waren friedlich und produktiv, besonders gute Handwerker. Gleich hier um die Ecke, in Beziers, gab es eine Albigensergemeinschaft ziemlich großen Ausmaßes, die 1209 das traurige erste Ziel des Albigenserkreuzzugs wurde. Wie so oft in der Geschichte sind die offiziellen Gründe für Barbarei mit den eigentlichen Zielen eines staatlich sanktionierten Gewaltverbrechens nicht identisch, so war es auch hier. Die römische Kirche, vertreten durch den Gesandten Abt Arnaud Amaury, wollte die Häresie beenden, weil sie nicht konform mit dem Dogma war, die französische Monarchie wollte die Grafschaft von Toulouse einnehmen, die seit Jahrhunderten, neben anderen okzitanischen Adelshäusern, viel zuviel Selbständigkeit gezeigt hatte. Vielleicht kam noch erschwerend hinzu, dass ein Gefolgsmann des Grafen von Toulouse den vorherigen päpstlichen Gesandten umgebracht hatte, als dieser ein gräfliches Einschreiten gegen die Katharer einfordern wollte… klingt wahrscheinlich. Aber was dann 1209 passierte und 10 Jahre lang andauerte, war eine der barbarischsten Gewaltorgien des Mittelalters und kein Schmuck auf dem Kittel Innozenz des Dritten, der zumindest gegenüber Franziskus und Dominikus viel mehr Toleranz gezeigt hatte; aber Kreuzzüge lagen dem soldatischen Papst eben sehr, und er ist ja auch der bedeutendste des Mittelalters, weil er die römische Kirche so mächtig gemacht hat, dass sie plötzlich an sehr vielen Stellen in Oriens und Occidens politische Macht hatte. Kurz und gut: Der Gesandte führte den Kreuzzug nach Beziers und sorgte dafür, dass in zornigem, fanatischem Eifer Schluss gemacht wurde mit den Ketzern. Auf die Frage, wie man denn die Ketzer von den guten Christen unterscheiden könnte, hatte er geantwortet: «Tötet alle, Gott wird die seinigen schon erkennen!» — 20.000 Menschen starben.
Hier in Cazouls-d’Herault wohnen wir in einem Haus aus dem 18. Jahrhundert, denke ich. Es ist das Herrenhaus einer ehemaligen Domaine. Hier wurde Wein gemacht. Innen berichtet noch eine wunderschöne steinerne Freitreppe von der alten Herrlichkeit, der Besitzer, ein Manager von Ringier. Axel Springer aus Lausanne, hat es wunderbar in ein großes Feriendomizil umgewandelt, das viele Menschen komfortable beherbergen kann. Wir bekommen bereits heute Besuch und vermutlich am Dienstag wieder. Wir haben 5 Schlafzimmer und 3 Badezimmer, zwei große Wohnzimmer und eine große Wohnküche mit begehbbarem Lagerraum. Moderne Geräte, schöne Installationen, schöne Möbel und stilvolle Bilder an den Wänden. Außen gibt es zwei große Schuppen, einen für Heizung und Gartengeräte, es würden aber hier noch ca 3 Traktoren reinpassen und einen für gepflegte Abende am Grill, mit einer Tafel für mindestens 10. Ein hübscher, leicht überwucherter Garten und ein großer Pool, der schön in der Sonne liegt. Ich sitze gerade im Schatten auf einer Terrasse unter einen Blätterdach, bislang der einzige Ort, wo unser neues Internet funktioniert. Da wir ahnten, dass es mit dem hiesigen wLan nicht so weit her sein wird («…naja, es ist nicht unglaublich schnell, aber man kann schon whats-appen…»”, hieß es vorab — wohingegen ein erster Test zeigte, dass selbst eine simple Seite wie google sich schwertat), habe ich in Bonn ein weiteres mobiles LTE-Böxchen gekauft und in Montpellier gestern einen 100 Gigabyte Datenvertrag auf einen Monat abgeschlossen und direkt eine aktivierte Sim-Card bekommen, die nach Startschwierigkeiten (meinen) gestern Abend dann von Sarah gelöst werden konnten.
Der Ort ist klein, wir waren allerdings noch nicht einmal in ihm drinnen. Hier geht es durch ein riesiges Tor (wie bei einem Schloss) direkt raus aus dem Ort, vorbei an hübsch geordneten Rebflächen und angelegten Baumreihen. Ich denke mal, sie brauchen die Bäume, von denen es doch eine Menge gibt, um die Reben vor den heftigen Winden zu schützen. Wir sind im Bereich des Übergangs von Mistral (Rhône) zu Tramontana, der die von hier bis runter an die Costa Brava bläst. Gerade fing es wieder an zu blasen. Das Wetter ist noch unentschieden, durch die Winde, die eigentlich Mittwoch aufhören sollen, ist es wechselhaft, die Sonne ist allerdings noch sehr stark. Wir müssen, bevor die ersten Gäste kommen, noch den Grill sauber machen und ein Problem mit der Wasserleitung lösen, die Wasserpunpe schaltet sich 5 mal pro Minute ein und ist laut. Den Rasenmäher habe ich nicht angekriegt, alles versucht, Tank ist auch voll, aber es geht eben nicht. Also wird der Vermieter einen Jungen aus dem Dorf schicken, das zu machen. Die Hausfrau haben wir gestern auch kennengelernt, sie kam abends schnell mal vorbei, weil ich dem Vermieter meinen ersten Eindruck von dem tollen Haus, aber leider dem sehr ungepflegten Äußeren geschildert hatte; das hatte zu einem Missverständnis geführt und sie in ihrer portugiesischen Ehre gekränkt, konnte aber ausgeräumt werden, als klar wurde, dass sie nur drinnen sauber macht und draußen, ja, eben kaum einer («bringt eh nichts bei dem ganzen Wind, und der Gärtner kommt einmal im Monat, das sollte reichen»). Kleiner Schluckauf am Anfang sozusagen. Soweit für jetzt, das Exploren beginnt, sobald wir etwas entspannt sind und eine dringend anstehende Auseinandersetzung mit den Moskitos für uns entschieden haben. Sarah hatte früh ihre erste Yoga-Stunde seit langem mal wieder unter freiem Himmel und ohne Zuschauer. ich denke, wir kommen in den Occitània-Groove schnell hinein. Der Bus ist leer und steht 50 Meter von hier auf einem Parkplatz, auch er ruht sich von den Anstrengungen der Reise aus. Der Bildschirm und die Geräte sind drinnen aufgebaut. Ab morgen muss an intensiv an den neuen Projekten gearbeitet werden. Auch das ein Vorteil der Sesshaftigkeit. Ihr machts mal gut und prüft Eure Terminkalender — vielleicht erreicht uns ja die eine oder andere Anfrage, uns zu besuchen. Platz ist da. Wir haben bereits ein paar Besuche ausgemacht, aber sind für weitere Vorschläge offen. Passt auf Euch auf und viele liebe Grüße, Niklas