Der Ärmel
Glastonbury war schon eine “Schau”. Die ehrwürdige Ruine von St. Michael auf dem Hügel, der mega-luxuriöse Campingplatz direkt darunter, aber den Vogel abgeschossen hat dann schon das Städtle selbst, denn selten sieht man so viele komische Vögel auf einem Haufen. Wir hatten den Eindruck, dass wir am Mekka der britischen Druiden, Hexen, Zauberer aber auch esoterischer Selbstinszenierer angekommen sind; oder eben dass dieser Ort mit seiner “Magie” eine besondere Anziehungskraft auf eine bestimmte Art von Leuten hat. Allein die Tatsache, dass wir beinahe kein einziges normales Geschäft gesehen haben (außer am Stadtrand oder im Industriegebiet), sondern Dienstleistung oder Angebot beschrieben wurde wie Klangheilung, Natürlicher Erdling, Seelentherapie, Erleuchtung, Feenland Aromen, zeigt das sicher ganz gut. Während ich auf Sarah vor dem Bioladen wartete, hörte ich zwei sehr schrillen Damen zu, deren eine der anderen die positiven Folgen von Hüten aus Alufolie erläuterte, indem die extraterristrische Strahlung abgeschirmt würde, ernsthaft.
Wir haben dann noch eine Werkstatt gefunden, die uns einen Ölwechsel gemacht sowie die Motorhaube repariert und die Wischblätter ausgetauscht hat, erstaunlich günstig. Sodann mussten wir eine schwere Entscheidung treffen, einerseits eventuell Cornwall sehen oder wenigstens Devon, wo es super schön sein soll, andererseits ist das Fahren zuletzt sehr aufwändig gewesen und die vielen Wechsel sind schon anstrengend — wir wussten, dass wir am Freitag in Hastings sein müssen, da wir dort verabredet waren, gute alte Freunde treffen. Also entschlossen wir uns, nicht weiter nach Westen zu fahren, auch dachten wir, wir hätten mit den 4 schönen Tagen in Wales unser Wetterglück auf der britischen Insel bereits ausgereizt. Dazu kam natürlich das beklemmende Gefühl, aktuell hier gar nicht mehr sein zu wollen. Wir hatten gelesen, dass Boris Johnson einen Rechtsrat eingeholt hätte, ob ihm ein altes Schlupfloch im Gesetz helfen könnte, seine Agenda gegenüber der EU ohne Parlament durchzukriegen, bzw wie so oft momentan die Agenda einer Bande von schwerreichen Lügnern und Egoisten. Als klar war, dass er das wirklich umgesetzt hat, hat das auf die Stimmung bei uns aber natürlich viel mehr hier im Land und bei Leuten, mit denen wir darüber sprechen, gedrückt. Der autokratische Entscheid, dem Parlament nun nur noch 10 Tage Zeit zu geben, den No-Deal zu verhindern (was sicher nicht reicht), die Regierungserklärung Ihrer Majestät auf Mitte Oktober zu setzen, wonach traditionell einige Tage lang darüber im Parlament gesprochen werden muss, sodass sicher bis 31.10. nichts passieren wird und das Königreich damit automatisch ausgetreten ist, ist der undemokratische Gipfel eines insgesamt üblen Prozesses, der einen schaudern lässt.
Unsere Freunde, mit denen wir in ihrem Garten gestern einen wunderbaren Nachmittag und Abend verbracht haben, sind selbst entsetzt und haben längst auch europäische Pässe für sich und die Kinder besorgt, als Sicherheit, weil sie sich in dieser Entwicklung, die ein Land, das einmal als ehrbar und korrekt galt, nun nimmt, nicht mehr sicher fühlen. Mit hart taktierenden Halunken an der Spitze. Offenbar, so denkt man hier, plant Johnson, dass er ein Misstrauensvotum bekommt, sodass es Neuwahlen geben muss. Da aber die Opposition wegen Corbyn einfach überhaupt nicht auf einen Nenner kommt (und er wohl auch nicht fortgehen wird) und das Land zu Beginn eines Do-Deal-Austritts quasi mit dem Rücken zur Wand steht, sind die Chancen, dass man Boris mehrheitlich wiederwählt (und damit viel mächtiger macht, als er jetzt ist) durchaus groß. Aber was für ein widerlicher Schachzug. Johnson ist nicht einmal gewählt. Er wurde von 160.000 Konservativen gewählt, nicht vom Volk. Im Königreich ist das Parlament die Volksvertretung, der Premier ist dem Parlament gegenüber verantwortlich — somit ist das, was Johnson hier gemacht hat, ein legalisierter Coup d’Etat.
Aber genug davon, es ekelt einen förmlich, und am Montag nehmen wir die Fähre zurück nach Calais. Wir sind dann also über kleine Straßen von Sommerset aus runter nach Dorset und Wessex gefahren, wunderschöne Englandromantik entlang des Weges. Bei Poole, Bournemouth, kamen wir an die Gestade des Britischen Meers, im Französischen La Manche (der Ärmel) genannt. Es war scheußlich kalt, dessen ungeachtet sind wir wieder einmal Zeuge geworden, wie offenbar doch die Briten andere körperliche Funktionen haben als wir. Es waren viele im Wasser, junge, ältere, Gruppen — ausgelassen haben sie darin herumgetollt, so wie wenn sie an der Cote d’Azur wären und nicht bei schlechtem Wetter in einem vielleicht gerade mal 17 Grad warmen Wasser. Aber die Wassertemperatur ist ja nur eine Sache, was uns am meisten verwundert hat (wir in Pullover und Weste), war, dass es einen sehr kühlen und heftigen Wind gab, aber dennoch massenhaft die Leute in ihren nassen Sachen am Strand spielten oder das Cliff hinauf zu ihren Autos spazierten, ein Lächeln im Gesicht. Ich finde das bewunderungswürdig. Alex hat mir gestern Abend zu erklären versucht, dass dies mit der Sturheit in der englischen Mentalität zu tun hätte — wer ist das Wetter schon, dass ich mir meinen Urlaub am Strand vermasseln lasse. Sie sind schon Originale, die Briten. Wir haben gestern Abend noch mehr über die britische Mentalität gesprochen, z.B. darüber, dass so viele Hunde haben. Unsere Gastgeber meinten, dass die Briten nicht so gut darin seien, Gefühle zu zeigen, z.B. ihren Kindern gegenüber, weil Gefühle aber doch etwas sinnvolles sind, hat man eben wenigstens einen, besser noch mehrere Hunde, damit es einen sicheren und berechenbaren Ort für Gefühlstransfers gibt. Zudem seien Hunde die optimalen Einstiege in höfliche und belanglose Smalltalks ohne Folgen, insofern ebenfalls ein wichtiges Gelenk im britischen Alltagsmiteinander.
Heute morgen mache ich mal ruhig. Wenn wir schon bei Hunden sind: Unserer zeigte zuletzt leichte Spuren von Stress, wir sind eventuell zuviel unterwegs. Er ist übermüdet, da er auf dem Weg nicht genug Ruhe findet, um seine 18-19 Stunden zu poofen. Sarah und ich überlegen, auch weil die heiße Phase bei den Trees jetzt ansteht, für 4 Wochen in Südfrankreich ein Appartement zu mieten, evt in der Gegend von Orange/Vaucluse, wo wir ein gutes Angebot erhalten haben, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Sarah ist heute früh unten in Hastings auf einem Yogaworkshop, ich bin oben auf dem Cliff auf dem Campingplatz und schreibe eben gerade. Rocco schläft auf dem Beifahrersitz, die Türe ist offen, nebenan spielt ein Kind mit zwei Welpen. Die Sonne scheint wieder. Heute früh stand ich wie eigentlich immer mit dem ersten Licht auf, der Boden war ganz nass vom Tau, der Himmel klar. Hier auf dem Easthill geht es direkt in ein Naturreservat, wie sie das nennen, einen sehr schönen, leicht wilden Wald mit Unmengen an Eichhörnchen und Kaninchen, über dem Cliff. Rocco und ich hatten einen sehr schönen Morgenspaziergang dort, anbei noch drei Bilder. Gegen 13 Uhr laufen wir auf die andere Seite des Easthills. Ich habe unserer Freunden versprochen, dass wir die Drohne fliegen lassen.
Euch alles Gute, passt auf Euch auf und freut Euch mit mir, dass Ihr in einem Land lebt, wo es keine gesetzliche Grundlage gibt, dass die Regierungschefin die Demokratie für ein paar Wochen lahmlegt, zumindest keine, von der ich weiß. Liebe Grüße, Niklas