Storyteller (Geschichtenerzähler)
Gestern Abend trafen wir Jerome und Summer. Sie hatten neulich auf der Terrasse des Hubud mit Michael zusammengesessen, während wir an der Arbeit waren, und abends fand ich dann die Notiz auf Facebook, dass sie sich auf der Suche nach Geschichten für einige Wochen bei uns aufhalten wollten — wer denn etwas zu erzählen hätte?
Am Freitag sah ich die beiden dann wieder auf der Terrasse, und wir kamen ins Gespräch. Sie schrieben Geschichten, hauptsächlich in Bereichen, die mehr oder weniger entfernt mit sehr neuen Technologien zu tun hätten und wie diese auf die Menschen und die Gesellschaft wirken, aber nicht soziologisch, sondern im Rahmen von Bildstrecken, indem sie Menschen über längere Zeit begleiten und studieren. Sie zeigten mir ihre Publikationen, den Stern, Le Figaro, die Zeit, worin sie teilweise über viele Doppelseiten nahezu unglaubliche Situationen beschreiben — ein Japaner, der einen virtuellen Popstar heiratet, junge Chinesinnen, die als moderne Geishas im halbseidenen Livestream den Chinesen massenhaft die Köpfe verdrehen, Großstädter, die herausgeputzt Selfies in Bauernhäusern und auf blühenden Feldern machen, womit sich arme chinesische Bauern finanziell über Wasser halten.
Sie seien bei uns auf der Suche nach neuen Geschichten von Remoteworkern, und ihr Modus sei, einfach dazusein und die Geschichte auf sich zukommen zu lassen.
Interessiert auch an unserer Geschichte, wollten sie gerne über die nächsten Wochen mehr davon hören — warum auch nicht, mir erscheint es tatsächlich auch nicht uninteressant, z.B. über das Trees-Projekt zu sprechen oder vielleicht auch die Arbeit an einem Prachtprojekt für den Hof des Emirs von Kuwait (von der Terrasse des Hubs aus), den Prozess des Zurücklassens einer funktionierenden Firma, für die man sich 2 Jahrzehnte abgerackert hat; also wurden wir uns einig.
Gestern abend waren wir vier balinesisch essen. Sarah und ich lauschten gebannt der eigenen Geschichte des Storytellers, und bereits nach wenigen Worten hatten wir beide das Gefühl, dass genau hier mal eine Wahnsinns-Story liegt, die eines Tages erzählt werden muss. Jerome und Summer arbeiten seit ein paar Jahren zusammen, er macht die Bilder und schreibt die Geschichten, sie assistiert, scoutet, organisiert und begleitet ihn auf der Pirsch, ob das im Zelt im tibetanischen Nirgendwo ist, oder im Nachtleben chinesischer Megastädte.
Jeromes Geschichte beginnt allerdings ein paar Jahre früher: Geboren auf La Réunion als Drilling, startete er sein Leben in Paris als Web-Analyst für große Unternehmen, verdiente viel Geld und lebte gut, jedoch irgendetwas arbeitete in ihm. Schon früh war er über die Geschichte einer Frau in Darjeeling (Indien) gestolpert, die tagaus-tagein das Gepäck der Reisenden am Bahnhof einer lokalen Bahn trug, um ihren 5 Kindern eine Ausbildung finanzieren zu können. Sie wollte er kennenlernen; da bei ihm offenbar indische Wurzeln vorhanden sind, nahm er den Umweg über Kalkutta, was ihn zutiefst erschütterte. Später angekommen bei der Mutter in Darjeeling, konnte er nur in Tränen zusammenbrechen — das Erlebte wies ihm aber auch den Weg dazu, dass er menschlichen Schicksalen nachspüren wollte, ihr Chronist werden.
Zurück in Paris wickelte er sein Leben ab und brach auf, eine sehr ungewöhnliche Reise zu beginnen. Der Plan: mittellos in den Himalaya zu reisen (ein Sehnsuchtsziel, dass er seit der Kindheit hatte); die SNCF spendierte ihm ein Ticket nach Mailand, denn von seinem Ersparten wollte er in fast jedem Land, das er betrat, einer NGO spenden und es nicht für den Weg ausgeben. Es ging über Brindisi, Griechenland, die Türkei, Georgien, Armenien, den Iran, mit dem Zug, per Anhalter, durch den Iran auf dem Fahrrad. Tadschikistan ließ ihn nicht einreisen, so flog er nach Kirgistan, und da er dort kein Chinavisum bekam, musste er über Kasachstan und die Mongolei quasi von hinten ins Land der Mitte einreisen. Von dort gings weiter über Vietnam, Laos, Kambodscha nach Bangkok, wo er 3 Monate auf einem Sofa wohnte. Birma, Indien, Bhutan, Nepal, der Zeitraffer wird dieser ungewöhnlichen Reise kaum gerecht. Unterwegs hatte er angefangen (das ist gerade mal 4 Jahre her) zu fotografieren und seine Bilder im Internet zu veröffentlichen. Die Kamerafirma Canon wurde aufmerksam auf seinen besonderen Blick und organisierte eine erste Ausstellung seiner Bilder in Yann Arthus-Bertrands Galerie, wo Jerome seinen zukünftigen Mentor Eric Valli, namhafter Reise-Fotograf, kennenlernte, der ihm riet, auf die Suche nach Geschichten zu gehen.
Wir erlebten eine selten gewordene Art Journalismus, fast wie aus einer alten Geschichte; er erinnerte uns an Tiziano Terzani, dessen Biografie wir hier in unserer Bleibe gefunden haben und die Sarah gerade liest. Die beiden benötigen bis zu 6 Monaten, um eine Geschichte zu finden und soweit Teil von ihr zu werden, dass sie sie erzählen können. Und erst dann zeigt sich, ob es irgendwo in der Welt der Medien jemanden gibt, der sie bringt. Und ob sie sich weiterverkaufen lässt, denn Reisen und Leben kostet, selbst wenn die beiden immer noch zelten und trampen. Dass die beiden nach so kurzer Zeit 10-11-seitige Reportagen im Stern, im Figaro und ganze Seiten in der Zeit belegen, spricht aber dafür, dass es für diesen hochkarätigen Journalismus immer noch einen Markt gibt.
Es war wirklich großartig, den beiden zuzuhören. Summer berichtete auch von sich, wie sie in Taiwan Wirtschaft studiert und jede freie Zeit für Reisen genutzt hatte und irgendwann in Afrika über diesen ungewöhnlichen Franzosen gestolpert war. Wie sie ihrer Familie ihre unorthodoxe Zusammenarbeit erklären musste und sich eben nicht für das Leben einer typischen jungen Taiwanesin entschieden hat, sondern sich alle paar Monate für lange Reisen mit Jerome zu irgendeinem neuen Abenteuer mit ganz offenem Ausgang aufmacht — auf der Suche nach einer neuen Geschichte.
Jerome will heute seine Synopsis für die neue Story schreiben, wir vereinbarten, dass wir uns nächste Woche wieder treffen — dann will er unsere Story hören.