Auf dem Sitzsack

Ich sitze heute Morgen auf einem Beanbag, einem Sitzsack am Strand, lediglich den Ozean mit mir; denke über nicht viel nach. Plötzlich kommt Marie-Anne, eine ältere Französische Dame aus der Gegend um Alès, vorbei – wie stets unterhalten wir uns.

Manchmal ist es im Leben schon komisch. Neulich haben Mary, George und ich versucht, das französische Ehepaar zu „verstehen“. Sie sind schon so lange hier. Wir haben gehört, dass die Massagehütte, wo wir gestern waren, oder das Restaurant mit dem wunderbaren Essen, 100 m von uns entfernt, gerade erst eröffnet wurden, als wir ankamen. Das französische Paar ist seit Anfang März auf Gili Air. Die Gilis sind seit vier Jahren am Leiden, Earthquake, Stürme, gerade erholt, dann Corona… Wir haben uns gefragt, was sie eigentlich hier machen, warum sie bleiben ... die Tage sind lang hier. Also habe ich sie in diese „territoriale Art von französischen Touristen“ hineingepackt, die sich einfach wohlfühlen, mit ihren Sachen um sie herum, nicht zu viel vom Leben verlangen; wir haben solche Leute oft auf Campingplätzen gesehen. Viel reden, nicht viel machen. Leicht durchschaubar ...

Heute Morgen haben wir uns also über das schöne Meer unterhalten. Sie hatte Probleme mit ihrer Go-Pro-Kamera, die Qualität ihrer Filme stimmte nicht, also versuchte ich, ihr mit meinem Mac zu helfen, leider vergeblich, aber ich entdeckte, dass diese Dame in ihrer 70-jährigen ledernen braunen Haut fabelhafte Unterwasserentdeckungen macht und nur ein bisschen von der Technik überfordert ist; … und macht es dennoch. ”Mir macht das einfach so viel Spaß, auch wenn es nur beim Tun bleibt”, sagte sie - sie ”spielt” also. Gestern haben sie abends Fische gegrillt. Beide hatten Bali-Belli, also eine Magenverstimmung, haben ein bisschen gelitten; sie haben es trotzdem veranstaltet, weil sie – nachdem sie das Benzin für einen Fischer bezahlt haben – dann die ganze Familie zum Strandessen eingeladen hatten und mit ihnen zusammengesessen sind und ihre Zeit genossen haben.

Plötzlich sagt Marie-Anne mir, dass sie jetzt wohl gehen wird, weil sie ”etwas zu tun hat”. Ich frage sie, was sie vorhat, und sie sagt mir: ”Na ja, der Müll hebt sich nicht selbst auf”. Kaum darauf finde ich heraus, dass sie das gestern den halben Tag gemacht hat, bis die Mülltonne voll war. Aber nicht nur das; zuvor sprach sie mit vielen Leuten in der Umgebung (normalerweise spricht sie Französisch und etwas Englisch mit den Einheimischen, so dass alles einen guten Moment dauert) - auch mit Nyoman, unserem Kellner, Barkeeper, Reinigungskraft, Manager, einem jungen Mann, der sehr einfach wirkt, aber irgendwie ein Lächeln auf den Lippen trägt, was immer er tut. Sie erzählte mir, dass Nyoman herausgefunden hätte, wohin er die Plastikflaschen bringen müsse, damit sie in Lombok recycelt würden, außerdem verkauft er Glas an einem anderen Ort, Sammelplastik für 2000 das Kilo, genauso die Blechbüchsen. Sie hat „ihre Arbeit“ also getan, weil es getan werden musste, und sie hat sich vergewissert, dass sich ihr Einsatz lohnt. Und sie hat es nicht vermieden, es selbst zu tun.

Apropos Nyoman. Am Abend saßen Georg und ich bei unserem Bier, Mary fühlte sich nach ihrer Massage so wohl, dass sie nicht mehr aus dem Haus gehen wollte. Georg, von dem man sagen kann, dass er eine solide Vorstellung dafür besitzt, was er zu bekommen hat, wenn er für etwas bezahlt hatte, wurde überraschenderweise dann plötzlich ganz milde, gerade angesichts so vieler Einschränkungen hier, verglichen mit der Werbung bei Booking.com (keine Seife, keine Sitzkissen, kein Chlor im Pool, kein Restaurant etc). Überraschenderweise sprach er mit mich auf Nyoman an: ”Wir dürfen nicht vergessen, ihm ein großes Trinkgeld zu geben, wenn wir gehen. Der Bursche ist so nett, er kümmert sich immer um uns und beherbergt uns mit so wenig Mitteln – und was können wir anderes tun als Trinkgeld geben!” Natürlich wissen wir, dass Georg großzügig ist, aber an Orten, für die er bezahlt, könnte man erwarten, dass er, wenn es um das Trinkgeld geht, am Ende abwägen würde, wer wie viel „verdient“ hat. Der kleine Unterschied hier ist, dass er - so kam es mir vor - den kleinen Mann so sehr schätzte, dass ihm das Trinkgeld in den Sinn kam, um eine Belohnung zu finden, oder um etwas zurückzugeben. Ein kleiner, aber spürbarer Unterschied?

Ich neige erneut dazu festzustellen, dass wir in unserer Wahrnehmung der Dinge möglicherweise zu 100 Prozent falsch liegen, weil wir nie ansatzweise das ganze Bild und die ganze Geschichte dahinter sehen und demnach eigentlich „nichts“ wissen. Deshalb scheint mir die Einteilung der Menschen in „besser“ oder „schlechter“ eine Sackgasse zu sein. Stattdessen freue ich mich darüber, von fast allem, was um mich herum passiert, positiv überrascht zu werden.

Heute Morgen, früh, weil ich nicht lange schlafen konnte, so viele Vögel wollten mich wach, hörte ich jemanden online über das ”Selbst” sprechen. Ich war neugierig darauf, weil mir die Worte ”Interdependenz” zugeflogen waren, „Verflechtung“, und „Inhärenz“, „Anhaftung“, und immer noch irgendwo in meinem Kopf herumgeisterten. Im Vortrag ging es darum, dass es unmöglich sei, sich selbst wirklich zu sehen, wenn man es auf ein ”Ich” begrenzt. Deine Person verändert sich, dein Körper, deine Gefühle, deine Gedanken, deine Erinnerungen - du kannst dich also nicht wirklich auf das verlassen, was das Du in Dir ist. Selbstsüchtig zu sein ist eine schlechte Wahl, denn dein Denken wird sich um dich herum verschließen und sich nur noch um ein unbestimmtes „Ich“ drehen, was auch immer du tust. Es ist, als würde man das Salz im Wasserglas immer wieder umrühren, in der Hoffnung, eine Veränderung herbeizuführen, aber es bleibt stets das gleiche Salz und das gleiche Wasser. Es ist, als würde man Gedanken oder Erinnerungen recyceln, als würde man immer wieder durch eine Drehtür gehen, ohne sie zu verlassen. Ich habe gelernt, dass die Betrachtung des Selbst ganz simpel als etwas „Unsichtbares“ in etwas „Sichtbarem“ auch hier der Schlüssel sein kann, um etwas darüber herauszufinden (wie die Balinesen das heilige Wasser Beji als das unsichtbare (Niskala) in yeh, dem sichtbaren Wasser, sehen (Sekala)). Ich denke, wenn ich die multiple Verflechtung sehe, die sich aus diesem Gedanken ergibt, da unser Unsichtbares sicherlich mit vielem anderen Unsichtbarem oder im Grunde mit allem verbunden ist, was man ja durchaus spüren kann, und die Tatsache akzeptiere, dass ich mich selbst nicht wirklich verstehen kann, weil mein Selbst nicht "meins" ist, in der Weise wie mein Portemonnaie oder mein Rucksack, die ich leicht durchsuchen kann, meins sind, - kann ich es leichter annehmen und schätzen, ohne es zu „erkennen“. Da ich es nicht kenne und identifiziere, nehme ich es nicht in „Anhaftung“ wahr, genauso wenig wie alles Sichtbare und Vergängliche um mich herum. Da ich diese „Interdependenz“ wahrnehme und erlebe, fühle ich mich positiv zu allem hingezogen, was mit meinem Selbst verbunden ist. Und wenn ich all das betrachte, womit ich verwoben bin, freue ich mich über die Güte in George, weil ich damit verbunden bin, ich freue mich über die Liebe, die Marie-Anne für die Menschen und die Fische hat, weil ich ein Teil davon bin. Ich freue mich für Nyoman, dass er seinen Zugang zu seinem Zuhause durch Lernen kultiviert hat und es geschafft hat, ein so herzlicher Mensch zu werden, ohne sich selbst zu ernst zu nehmen, weil ich mich ihm nahe fühle, obwohl ich nicht viel über ihn weiß.

Urteilen, so wie ich versucht habe, die Franzosen als ”einfach gestrickt” oder – vor der Reise in Ubud - die Lomboker als ”Gauner” einzusortieren, ist nur der einfache Weg, eine neue Illusion zu schaffen, denn es sieht aus wie Vorwissen, sieht aus wie die Fähigkeit, mit Menschen oder Situationen umzugehen, ist aber nur eine Vernebelung der Sicht; es scheint, etwas greifbar zu machen, ist aber Unfug, basiert auf dem Irrtum, dass wenn wir Etiketten verteilen, wir besser verstehen; zeigt auch die Verhaftung mit der Idee des „Verstehens“ an sich; Im Sinne von: Wenn ich eine Situation verstehe, lebe ich besser. Wenn man urteilt, so habe ich gelernt, ist es der Versuch, sich selbst zum Richter zu machen. Das bedeutet erstmal, dass niemand sonst über einen selbst urteilen kann, denn wer sollte den Richter richten? Wenn man versucht, das Außen zu kritisieren oder zu verändern, ist das der Versuch, eine ”Gottheit” zu spielen, heißt es. Irgendwie tatsächlich ein schräger Gedanke, dass, wenn ich will, dass sich ein Mensch um mich herum ändert, weil er nicht so ist, wie ich es will, ich nicht wirklich den anderen Menschen, sondern - unbewusst - nur mich in dem anderen Menschen adressiere. Da ich nicht verstanden habe, wer ich bin und mich nicht in dieser Verwobenheit wahrnehme, müsste ich so mächtig wie ein Gott sein, um eine Veränderung für mich selbst zu erreichen, weil ich nicht begriffen habe, dass jegliche Veränderung nur in mir selbst stattfinden kann. Aber das würde niemals funktionieren, selbst wenn ich die andere Person ändern könnte. Wenn meine Brille schmutzig ist, kann ich die Fenster an der Wand putzen, so viel ich will, ich würde keine klare Sicht haben. Und ich sehe mich nur in der anderen Person, weil ich mich noch nicht in "allem" sehe. Ich will Richter sein, denn wenn ich keine Angst vor Verurteilung hätte, hätte ich längst akzeptiert, dass die Dinge so sind, wie sie sind, obwohl ich sie nicht verstehe. Und ich will eine Gottheit sein, um unbewusst Veränderung für mich selbst zu erzwingen, weil ich immer noch an „besser“ und „schlechter“ glaube, etwas tun will, um besser zu werden, weil ich immer noch missverstehe, was Götter tun - dass Götter letztlich alle ... nur spielen.

Ich genieße den Gedanken, dass das Selbst nicht "gefunden" werden muss, um zu existieren oder geliebt zu werden, ich muss es nur akzeptieren und tun. Es ist so einfach, das Leben mit Staunen, Wertschätzung, Güte und Mitgefühl zu betrachten. Gerade in der Natur. So erzählte mir Mary, dass ihr Vater die australischen Kiefern gehasst hatte, die auch überall auf dieser Insel wachsen, weil sie so invasiv sind, dass man immer in ihre winzigen Zapfen tritt. Gestern, nach unserem späten Mittagessen, lag ich in der Hängematte, behaglich dämmernd, genoss die Brise, die ruhige Umgebung um mich herum, den beruhigten Puls. Ich öffnete die Augen und sah, dass die Äste über mir - mit ihren winzigen Nadeln - so undeutlich und verschwommen waren, dass sie mit den sanften Wellen der Luft einen Himmel wie in einem Aquarellbild schufen. Und mir kam die Redewendung in den Sinn: Kein Baum ist besser als der andere.